Erste Hilfe für "Kinder-Seelen"

Wie man trauernden Kinder und Jugendlichen in Krisensituationen beistehen kann - Fragen an Notfallseelsorgerin und Gemeindepfarrerin Eva Holthuis

Eva Holthuis, Koordinatorin für die Notfallseelsorge und Gemeindepfarrerin, wurde vor kurzem für eine katholische Zeitschrift "THEMA JUGEND“ befragt, wie man Kinder und Jugendliche in Krisensituationen seelsorglich begleiten kann. Wir publizieren einen Auszug ihrer Antworten auf Fragen, die Sara Remke stellte.

Wie sieht Ihre Arbeit mit kindlicher oder jugendlicher Trauer konkret aus?

Holthuis: Wie gehe ich angemessen mit meinem trauernden Kind um? Eine häufige Frage, die mir als Gemeindepfarrerin begegnet: ob in der evangelischen Kindertageseinrichtung, im Rahmen einer Beisetzung oder im Kontakt mit Müttern und Vätern der Selbsthilfegruppe „Herzenskinder". Da bin ich als beratende Fachfrau und Seelsorgerin gefragt. Als leitende Notfallseelsorgerin habe ich meine fachlichen Kompetenzen praxisnah vertieft und bilde ehrenamtliche Einsatzkräfte für den Kinder- und Jugendnotfall aus. Unterstützungsbedarf mehrt sich v.a. an Schulen, weil Schulleitungen sensibel reagieren, wenn ein Mitglied ihrer Schulgemeinde unerwartet verstirbt.

Was ist das Schöne, was aber auch das Herausfordernde Ihrer Tätigkeit?

Holthuis: Das - wenn Sie so wollen - Schöne ist, Menschen an Brennpunkten ihres Lebens zu ermutigen, den nächsten Schritt zu wagen. Und deren Vertrauen zu spüren: Da ist jemand für mich da, der bleibt, mich versteht, mir Sicherheit gibt und mich berät. Manchmal sagen Angehörige mir das, z.B. nach dem Tod ihrer Eltern im Umgang mit ihren jungen Kindern. Herausfordernd erlebe ich die Einsätze als Notfallseelsorgerin: Auch Kinder und Jugendliche können Betroffene sein. Wenn jemand unerwartet stirbt und der eintreffende Notarzt oder die Feuerwehr bzw. die Polizei die Notfallseelsorge anfordert. Ich komme dann zeitnah in eine Situation, die von Unruhe, intensiven Gefühlen und vielen fremden Einsatzkräften auf engem Raum geprägt ist. Dann bin ich gefordert, mit Ruhe und Aufmerksamkeit wahrzunehmen, wer welche „Erste Hilfe für die Seele" braucht.

Wie gelingt es Ihnen in der Begegnung mit dem einzelnen Menschen – gerade auch in schmerzhaften Situationen oder Erfahrungen – da zu sein?

Holthuis: Pfarrerinnen und Pfarrer bringen eine mehrjährige seelsorgliche Ausbildung mit, Notfallseelsorgende überdies ihre fundierten psychosozialen Kenntnisse. Hinzu kommt umfangreiche Praxiserfahrung. Dann kann es gelingen, dass Betroffene sich nicht allein gelassen fühlen, die Eindrücke ordnen können und beginnen, „gesund" zu trauern. Ich erkenne das vor allem daran, wenn sie sich auf Familie, Freunde und Nachbarn ansprechen lassen, die sie in dieser ersten Situation um sich haben wollen.

Was brauchen Kinder und Jugendliche, wenn sie sehr schmerzhafte Erfahrungen gemacht haben oder noch in sehr (emotional) belasteten Verhältnissen leben?

Holthuis: Menschen jeden Alters benötigen gerade dann vertraute, verlässliche Menschen und sensible Begleitung. Kinder und Jugendliche umso mehr, da sie auf wenig vergleichbare Erfahrung zurückgreifen können. Kinder öffnen sich in der Regel nur vertrauten Menschen. Das können Eltern sein, aber auch die Klassenlehrerin oder der Jugendleiter der örtlichen Kirchengemeinde. Meine Aufgabe als „Fremde" ist, diese Bezugspersonen zu beraten und zu stärken. Zu einem Verlusterlebnis kommen mitunter auch bleibende Bilder, Geräusche oder Gerüche, die Jugendlichen fremd sind und sie verunsichern. Dann frage ich: Was hat dir in einer ähnlichen Situation geholfen? Oft genug kommt dann: Zeit mit meiner besten Freundin. Oder: Sport treiben. Oder: Meine Eltern hatten richtig viel Zeit für mich und haben mir zugehört, ohne sich aufzudrängen. Manche berichten, dass sie sich nicht ausgeschlossen fühlten, weil man ihnen offen und ehrlich antwortete und sie in Entscheidungen einbezog. Z. B. ob sie zu Trauerfeier und Beisetzung mitkommen; oder, ob sie in diesen Tagen zur Schule gehen wollen. Manche Eltern sehen sich überfordert, ihr Kind zu fragen, ob es mitkommen möchte, den Verstorbenen noch einmal zu sehen.

Auf welche vielfältige Weise erleben Sie trauernde Kinder und Jugendliche? Gibt es Trauerarten, die gesellschaftlich nicht anerkannt sind und wie stehen Sie dazu?

Holthuis: Der Verlust einer Bezugsperson kann als einschneidendes Ereignis erlebt werden. Tatsächlich trauern Kinder und Jugendliche wie Sie und ich. Auch sie brauchen genug Zeit. Und die Bandbreite möglicher Trauerreaktionen ist groß und individuell: Manche junge Menschen wirken distanziert oder besonders anhänglich, manche sind unruhig, unkonzentriert oder gereizt, ängstlich oder aggressiv, sie werden schweigsam oder redebedürftig. All das ist angemessenes Verhalten. Vergessen Sie bitte nicht: Die Situation ist ungewöhnlich! Vorübergehende Beschwerden wie Schlaflosigkeit, schlechte Träume oder Müdigkeit, Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit oder Übelkeit können hinzukommen, müssen aber nicht! Aber das kennen wir Erwachsene doch auch! Manchen Kindern aber sieht man die psychische Belastung nicht an. Verspieltes Verhalten, scheinbares Desinteresse oder nüchternes Fragen helfen ihrer Seele, hinterher zu kommen. Das ist völlig normal, wenn es ihnen nach wenigen Tagen besser geht. Manchen Kindern und Jugendlichen fällt es schwer, sich zu äußern, weil ihnen schlicht die Worte fehlen. Wir Erwachsene haben da mehr Reserven.

Herausfordernd sind für sie und alle, die sie begleiten wollen, vor allem folgende vier Situationen: wenn sie Geschwisterkinder oder Mitschüler verlieren, wenn sie vom Tod einer Bezugsperson auf dem Hintergrund eines Unglückes, von Eigen- oder Fremdverschulden erfahren, wenn sie zu denen gehören, die den Verstorbenen auffinden, wenn der vertraute Mensch vermisst wird, z.B. nach einem Flugzeugabsturz. Als erfahrene Notfallseelsorgerin rate ich dann, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, für die ganze Familie.

Wie können Kinder und Jugendliche gestärkt aus Trauerprozessen hervorgehen?

Holthuis: Wenn junge Leute in der ersten Trauerzeit erfahren: Jetzt ist das so, ich bin sehr traurig. Ich brauche wie alle anderen Zeit und Gespräche. Es wird vorübergehen… und sie auf Geduld, Besonnenheit und zurückhaltende Gesprächsangebote treffen, wird das in erheblichem Maß dazu beitragen, dass sie sich erholen. Vertraute Tagesstrukturen und verlässliche Absprachen dienen der Stabilisierung. Wenn Eltern ihren Kindern nicht verheimlichen, dass auch sie betroffen sind und sich gemeinsam mit ihnen erholen wollen, kann das zur Vertiefung der Beziehung und zu einer positiven Haltung beitragen. Als Seelsorgerin stärke ich – wo es sich bietet – den Zusammenhalt und die positive Grundeinstellung: Wer weint, darf auch lachen! Ich frage: Welche witzigen Erlebnisse fallen dir ein? Welche schöne Erinnerung legst du in dein „Schatzkästchen"?

Gibt es „kleine Helfer", die gut tun (z. B. Rituale, Engelbilder, etc.)?

Holthuis: „Kleine Helfer" gibt’s bei mir nur in der Küche! Hilfreich beim Trauern sind angemessene Reaktionen. Dazu können auch Rituale beitragen: vertraute, bewährte ebenso wie besondere. Als Notfallseelsorgerin bin ich Begleiterin der allerersten Stunden nach Erhalt der traurigen Botschaft oder der Verlusterfahrung. Wenn zu Hause jemand gestorben ist, der Notarzt seine Arbeit getan hat und die Familie im Wohnzimmer sitzt, biete ich auch an, gemeinsam noch einmal in das Zimmer hinein zu gehen, beim Verstorbenen eine Kerze anzuzünden, vielleicht noch etwas zu sagen oder ein Gebet zu sprechen. Auf Wunsch segne ich den Verstorbenen. Das ist aber situationsabhängig und zuvor nach Klärung der Raumsituation mit Eltern, Rettungsdienst bzw. Bestatter zu beraten. Von betroffenen Kindern und Jugendlichen erfahre ich, dass sie solche Momente als Wertschätzung und auf Dauer tröstlich erleben. Im Übrigen: mein „großer Helfer" in der Begleitung Trauernder ist mein persönlicher Glaube. Der hilft mir, hoffnungsvoll und stark genug in eine Situation zu gehen, in der Erwachsene, Jugendliche und Kinder nach Halt suchen und das Geschehene begreifen wollen.

Was würden Sie pädagogischem Fachpersonal mit auf den Weg geben bei der Begleitung von trauernden Kindern und Jugendlichen?

Holthuis: Gehen Sie mit derselben Offenheit und Unbekümmertheit an das Thema „Tod und Trauer" wie die Ihnen anvertrauten Kinder. Dann können Sie nichts falsch machen! Rechnen Sie mit allen erdenklichen Reaktionen, nehmen Sie sie achtsam wahr und erinnern Sie: Das ist jetzt angemessen! Seien Sie verlässliche und vertrauenswürdige Gesprächspartner! Bieten oder vermitteln Sie das geschützte Einzel- wie Gruppengespräch. Im Zweifel holen Sie sich Hilfe: z.B. bei der Regionalen Schulberatung oder ihrer örtlichen Seelsorge. Kleinere Kinder erwarten Geborgenheit. Geben Sie der gemeinsamen und individuellen Trauer Gestaltungsraum, kreative Ausdrucksmöglichkeiten – auch in der weiterführenden Schule. Mit Jugendlichen das Thema „Tod und Trauer" als Bestandteil des Lebens zu erarbeiten, kann im Vorfeld des Ernstfalles erheblich zu angemessener Trauer und Rückkehr in den Alltag beitragen. Dazu gibt es gute Kinder- und Jugendliteratur bzw. kostenlose Informationsflyer. Als Seelsorgerin habe ich mit kritischem Blick eine Auswahl getroffen und stelle sie betroffenen Familien kurzfristig zur Verfügung. Vor allem bei Bilderbüchern ist aber darauf zu achten, dass sie zur konkreten Situation passen. Überzeugend sind die drei verschiedenen Flyer des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe für Kinder, Jugendliche und Erwachsene und die „Pixibücher" des Notfall-pädagogischen Instituts Essen. Ich empfehle auch den Elternbrief 48 „Mit Kindern trauern" der Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen e.V.

Was wünschen Sie trauernden Kindern und Jugendlichen? Und was unserer Gesellschaft in Bezug auf Trauer von Kindern und Jugendlichen? Welche gesellschaftlichen Herausforderungen sehen Sie diesbezüglich?

Holthuis: Aus Sicht der Seelsorge wünsche ich mir, dass Tod und Trauer regelmäßig, praxisnah und beherzt thematisiert werden - in allen Schulformen. Bei kirchlichen Kindertageseinrichtungen und Jugendhäusern gehört es ins Portfolio ihres Profils. Und zwar als lebensbejahendes Thema, bei dem alle Fragen in entspannter und interessierter Atmosphäre altersgemäß beantwortet werden! Sinnvollerweise auch in Kooperation mit örtlichen Pfarrerinnen und Pfarrern, der Notfallseelsorge oder der Regionalen Schulberatung. Auch die Erkundung eines nahen Friedhofes kann die Barrieren des Ernstfalles mindern, so dass Kinder und Jugendliche sich angstfrei und ausdrucksfähig ihrer Trauer widmen können. Und wissen, wo sie weitere Hilfe bekommen.

Zusammenfassend: Warum ist die Begleitung von Kindern und Jugendlichen in Trauer und Leid ein wichtiges Thema für den Kinder- und Jugendschutz?

Holthuis: Die positiven Erfahrungen in der psycho-sozialen Prävention in schulinternen Lehrerfortbildungen und aus der Akutintervention in Kindertageseinrichtungen und Schulen ermutigen mich als Notfallseelsorgerin, davon auszugehen, dass immer mehr Pädagoginnen und Pädagogen die Vielfalt der Trauerwege von Kindern, Jugendlichen und deren Eltern fachlich und emotional kompetent begleiten. Der Bedarf bleibt!

Schließlich eine persönliche Frage: Was hilft Ihnen persönlich in der Trauer?

Holthuis: Der „Münchhausen-Effekt" bleibt ein Märchen! Bin ich persönlich betroffen, sitze auch ich „auf der anderen Seite". Letztlich gilt alles, was Kindern und Jugendlichen weiterhilft, auch mir selbst: dass ich dann auf zugewandte Menschen treffe, deren Nähe mir zum „wärmenden Mantel" wird, in Familie und Freundeskreis. Dass gegebenenfalls professionelle Begleiter in den ersten Stunden für mich da sind. Darauf hoffe ich! Und: dass mich dann auch mein Glaube und Menschen meiner Kirchengemeinde tragen. Und mich biblische Worte neu verankern: Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben Lang und ich werde bleiben im Hause der HERRN immerdar. (Psalm 23, 6)

s.auch ausführliches Interview und Diskussion unter  www.thema-jugend.de.